Donnerstag, 14. August 2014

Tote können länger

Den folgenden Text habe ich als Gastbeitrag für ein Satiremagazin verfasst, das kurz darauf leider eingestellt wurde. Der Artikel ist nie erschienen, was ich schon irgendwie schade finde, deshalb werfe ich ihn einfach mal hier unter's Volk. Viel Vergnügen!


Tote können länger
von Ruther Rendommeleigh


Die Dämmerung bricht herein. Ich wage einen Blick aus dem Fenster. Kein guter Tag. Die Straßen sind voll von ihnen. Ziellos schlurfen sie umher, stoßen gegeneinander, wanken mit leerem Blick im Kreis. Der Lärm wird sie angelockt haben, schätze ich, oder der Geruch alten Frittierfetts. Ich beobachte eine Weile, suche nach Mustern in ihren Bewegungen. An meinem Aussichtspunkt im vierten Stock bin ich relativ sicher. Sie schauen nie nach oben.
Die Rede ist natürlich von den Lebenden. Wie Sie vielleicht schon erraten haben, gehöre ich nicht zu ihnen.
Keine andere Minderheit steht in einem so schlechten Ruf wie die Wandelnden Toten. Man stellt uns als hirnlose Mordmaschinen dar, als Werkzeug des Teufels oder Krankheitsüberträger. Setzen Sie sich ruhig einmal vor den Fernseher und zählen Sie, wieviele Zombies der Protagonist eines einschlägigen Horrorstreifens ohne Reue niedermäht. Schon von klein auf wird den Menschen beigebracht, dass es in Ordnung ist, uns wahlweise mit Feuer und Schwert, mehrläufigen Schrotflinten oder grausamen Experimenten zu begegnen.


Warum Sie das alles interessieren sollte? Nun, wenn dieser Brief Sie erreicht, gehören Sie bereits dazu. Dies ist sozusagen Ihre – nachträgliche – offizielle Einladung, sich uns in aller Stille anzuschließen. An dieser Stelle verzichte ich darauf, Ihnen Gelassenheit nahezulegen und beschränke mich auf den Hinweis, dass Gefühle wie Panik oder Wut von einigen wenigen Drüsen abhängen, die inzwischen ihre Arbeit längst eingestellt haben sollten.


Wie es passiert ist? Da gibt es viele Möglichkeiten. Wir sind inzwischen überall. Hatten Sie in letzter Zeit engeren Kontakt zu Juristen? Erinnern Sie sich, wie Sie nach dem letzten Besäufnis nach Hause gekommen sind? Wie gut kennen Sie die Imbißbude auf halbem Weg zu ihrer Stammkneipe? Oder vielleicht neigte Ihre neueste Eroberung ein bißchen zum Kratzen und Beißen? Hat nicht ein zusammenhängendes Wort herausgebracht? Ach, glaubten Sie wirklich, Sie wären so gut?


Aus welchem Grunde auch immer wir Sie nun in unseren Reihen begrüßen dürfen, ich möchte Ihnen auf jeden Fall ein paar Erkenntnisse mit auf den Weg geben, die Ihnen in Ihrem neuen Unleben von Nutzen sein werden. Das Wichtigste zuerst: Versuchen Sie nicht, die Menschen zu bekämpfen! In den ersten Tagen mag Sie eine Art Heißhunger überkommen, gefolgt von einem Gefühl der Unbesiegbarkeit. Geben Sie dem nicht nach! Letztlich würden Sie doch verlieren - und all den Vorurteilen neue Nahrung geben.
Was mich auch schon zum leidigen Thema der Ernährung bringt. Ihr neuer Metabolismus ist in dieser Richtung eigentlich recht anspruchslos. Ein Pfund rohen Schinkens oder grober Blutwurst pro Tag sollte vollauf genügen, um bei Kräften zu bleiben. Dennoch werden sie bald den Drang verspüren, unvorsichtige Post- oder Pizzaboten in ihre Wohnung zu zerren. Davon möchte ich Ihnen dringend abraten. Unangekündigtes Verschwinden zieht heutzutage peinliche Ermittlungen nach sich. Wenn Sie der Heißhunger packt, greifen Sie stattdessen lieber zu GEZ-Beauftragten oder Zeugen Jehovas. Niemand wird Ihnen diesbezüglich unangenehme Fragen stellen. Falls Sie dennoch einmal ein schlechtes Gewissen plagen sollte, denken Sie daran: Sie können jederzeit aufhören. Ehrlich!


Wie dem auch sei, der größte Unterschied zwischen ihnen und uns – von Oberflächlichkeiten wie Hautfarbe und Herzschlag einmal abgesehen – ist die Art, wie wir die Dinge um uns herum wahrnehmen.
Richten Sie ihren Blick einmal in den nächsten Spiegel. Sie sehen ein unrasiertes, leicht aufgedunsenes Gesicht, blass, Mitte dreißig? Glückwunsch, Sie sind einer von uns. Falls Sie hingegen einen männlich-ausdrucksstarken Blick, ein markantes Kinn und animalischen Charme erkennen... nun, die schlechte Nachricht ist: Es ist dasselbe Gesicht. Ihr Gehirn benötigt schlicht noch ein paar Stunden, um den letzten Rest Hormoncocktail vom metaphorischen Becherboden zu schlürfen.
Es heißt, die Welt sei eine Bühne. Für die meisten Menschen gleicht sie eher einem großen Kinosaal. Auf jede halbwegs ebene Fläche projizieren sie wechselweise Werbespots und Seifenopern. Wenn ein Mensch seinen Blick in die Ferne richtet, sieht er noch immer hauptsächlich sich selbst.
Diese Eigenschaft hat es uns erlaubt, bis heute zu überleben. Oder über-nicht-leben, gewissermaßen. Äh. Wie dem auch sei, ein Lebender sieht, was er erwartet, meistens jedenfalls. Der Kontext ist entscheidend. Sie werden überrascht sein, wie leicht ein frisch gebügeltes Hemd und ein eleganter Hut aus einem menschenfressenden Untoten einen bloß übermüdeten Geschäftsmann machen. Imitieren Sie sie, passen Sie sich ihrer Kleidung, ihren Bewegungen an und sie werden Sie nicht einmal bemerken.
Damit sei Ihnen keineswegs geraten, in allzu engen Kontakt zu den Lebenden zu treten. Wenn Sie Aufmerksamkeit erregen, wird ihr Gegenüber umso mehr Details wahrnehmen. Die es selbstverständlich ignorieren oder gänzlich falsch deuten wird. Man kennt Sie schließlich, es ist bekannt, daß Sie Anwalt, Drogendealer oder Alkoholiker sind. Aber dieser Prozeß ist anstrengend, schafft vages Unbehagen. Die Leute werden sie nicht mögen. Nicht einmal jene, die aus irgendeinem Grund nichts gegen Anwälte haben.
Das muß nun allerdings nicht bedeuten, dass Sie Ihr restliches Dasein in Einsamkeit fristen müssen. Der Umgang mit anderen Ihrer Art wird Ihnen erstaunlich leicht fallen, was nicht zuletzt an unseren recht moderaten Ansprüchen liegt. Niemand erwartet Höflichkeit von einem wandelnden Kadaver. Wenn Ihnen jemand gefällt, halten Sie sich nicht mit Smalltalk auf. Und planen Sie ruhig ein, zwei Stunden mehr ein. Wanken Sie anschließend in eine jener Kneipen, um die Sie als Lebender immer einen großen Bogen gemacht haben. Gehen Sie mit Ihren untoten Kumpels zu den lautesten, brutalsten Konzerten und kämpfen Sie sich in die erste Reihe vor. Einen beim Pogen ‚geborgten‘ Arm wird Ihnen niemand übelnehmen, sofern sie das Körperteil anschließend zurückgeben. Modern Sie nicht in Ihrer Zweizimmerwohnung vor sich hin! Sie sind bereits tot, was haben Sie zu verlieren?

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