Freitag, 12. September 2014

Über den Rand: Teil 1

Da mir aktuell die Zeit für den nächsten Mammutroman fehlt, ich das Schreiben aber auch nicht gänzlich sein lassen will, probiere ich es hier einmal mit einem etwas anderen Format. Der folgende Text, zur Zeit nichts weiter als ein vages Konzept, wird ca. zwei- bis dreimal pro Woche ergänzt (Edit: Höhö, ja klar, du Optimist...), bis ein in sich geschlossenes Kapitel entstanden ist. Bei Gefallen wird die Serie fortgesetzt, ansonsten versuche ich mich an der nächsten Erzählung.

Aufgrund der Kürze der Fragmente werde ich nicht für jedes Update einen eigenen Post schreiben, vermutlich eher einen pro Kapitel.

Nun denn, so lasset uns beginnen...


Über den Rand




Es ist kalt hier, am Ende der Welt. Ein winziger Kreis aus Licht, umringt von undurchdringlichem Nebel. Und danach? Wer kann das sagen? Gleichgültig, ich werde es bald erfahren. Hinter mir leise Stimmen und eine fröhliche, seltsam vertraute Melodie. Knisternde Flammen. Behaglichkeit. Vor mir ein graues Nichts.
Für einen winzigen Augenblick zögere ich. Lausche. Atme tief ein. Setze langsam einen Fuß vor den anderen. Der Nebel umgibt mich jetzt völlig, dämpft meine Sinne, saugt den letzten Rest Wärme aus meinen Knochen. Mein Atem gefriert in meinem Bart. Das Gras unter meinen Sohlen knirscht und splittert. Der nächste Schritt geht ins Leere. Ich kann nicht sagen, ob ich schwebe oder falle. Grau weicht schlagartig tiefem Schwarz. Die Stimmen sind verstummt. Nur eine vertraute Melodie folgt mir leise über den Rand.
Für eine kleine Ewigkeit taumel ich durch leeren Raum. Oben und unten, innen und außen sind Konzepte ohne Bedeutung. Selbst die Kälte hat ihren Biss verloren. Die Melodie ist jetzt fast verstummt. Ganz leise kann ich sie noch vernehmen. Oder ist das bloß ein Echo in meinem Kopf? Ein vages Gefühl der Angst überkommt mich. Ich ahne, dass auf die Stille etwas folgen muss.

Ganz leise, zögerlich, beginne ich zu summen. Gegen die Angst. Gegen die Stille. Um irgendwie diese allumfassende Leere zu füllen. Der dünne Ton verhallt beinahe unhörbar. Ich summe lauter. Klatsche in die Hände. Singe schließlich aus vollem Hals. Ergebe mich ganz der Melodie. Die Stille ist noch da, schwarz und allumfassend, aber solange jede Faser meines Leibes vibriert, bin ich vollständig. Und mit der Musik kehrt auch die Zeit in meine kleine Welt zurück. Zwei, drei, fünf Lieder später ist mir beinahe warm. Erst nach etwa fünfzig beginne ich mich zu fragen, ob ich mich geirrt habe. Ob diese konturlose Leere vielleicht doch alles ist, was sich hinter dem Rand der Welt verbirgt. Werde ich für den Rest meiner Existenz singend durch das Nichts taumeln? So poetisch der Gedanke auch ist, er beunruhigt mich. Und enttäuscht ein wenig. Ich hatte mehr erwartet.

Meine Unruhe wächst. Und mit ihr kehrt die Angst zurück. Gleichzeitig weicht das Gefühl der Schwerelosigkeit einer Ahnung, dass dort vor – unter? – mir noch etwas sein muss. Etwas Großes, Massives, das mit bedrohlicher Geschwindigkeit näherkommt.
Etwas peitscht knallend über mein Gesicht, hinterlässt einen grellroten Striemen. Dumpfes Rauschen. Wind? Ein zweiter Schlag trifft meinen Arm. Ich rolle mich instinktiv zusammen. Der dritte Aufprall treibt mir die Luft aus den Lungen. Mein Kopf dreht sich und in den Augenwinkeln tanzen bunte Glühwürmchen.
Es dauert eine ganze Weile, bis ich mir meiner Umgebung bewusst werde. Mit der Schwerkraft scheint auch eine Art… Boden zurückgekehrt zu sein: Ein feuchtes, modriges, seltsam federndes Etwas, das sich an meinen Rücken schmiegt. Ein leises Knarren irgendwo über mir. Die Luft schmeckt nach abgestandenem Wasser.
Ganz vorsichtig richte ich mich auf. Der Boden ist glitschig und uneben. Meine Rechte ertastet etwas, das ich für einen dünnen Baumstamm halte. Die Rinde ist hart und rissig. Allmählich beruhigt sich mein Atem, auch wenn mir noch jeder Knochen im Leib wehtut. Aber ich bin ja selber Schuld. Hätte mir ja denken können, dass ein Spaziergang über den Rand der Welt nicht ohne kleinere Blessuren abläuft. Nun gut, wie geht es jetzt weiter? Erst einmal brauche ich Licht.

Zum Glück verlasse ich das Haus nicht ohne eine leistungsstarke Taschenlampe. Zwei Handgriffe später teilt ein grellweißer Kegel die Nacht. Und ein graues, kindgroßes Zottelwesen blinzelt mir verstört entgegen. Für einen Augenblick starren wir uns regungslos an. Die Gestalt steht aufrecht, auf zwei dürren, behaarten Beinen. Schlaksige Arme hängen bis zum Boden herab. Schwarze, pupillenlose Augen beherrschen ein kindlich-naives, beinahe dümmlich wirkendes Gesicht. Fast könnte man das Wesen niedlich finden, wären da nicht die unterarmlangen Krallen an seinen Fingern.
Zögernd macht es einen halben Schritt auf mich zu. Seine Miene ist ausdruckslos. Zögernd senke ich die Lampe, nur eine handbreit. Das Wesen hebt fast unmerklich die Schultern. Ist es Gier, die ich in seiner Haltung lese? Oder Furcht?
Vielleicht sollte ich es mit Diplomatie versuchen. „Kannst du sprechen?“
Das Wesen starrt mich an.
„Nun gut“, murmel ich, mehr zu mir selbst, „war nen Versuch wert.“ Vielleicht hat es Hunger? Ich krame in meinen Taschen. Und halte augenblicklich inne. Die halbe Sekunde, die ich meinen Blick gesenkt hatte, reichte dem Wesen, um auf Nasenlänge an mich heranzutreten.
„Kannstdu. Sprechen.“, krächzt es. Sein Atem riecht faulig.

Mit zitternden Fingern ziehe ich einen halben Keks aus der Jackentasche. Nicht ohne dabei einen halben Schritt zurückzutreten. Halte ihn dem Wesen vorsichtig vor die Augen.
„Magst du Kekse?“ Ich versuche mich an einem gewinnenden Lächeln.
Das Wesen… schnüffelt? Kommt ruckartig näher. Ich fahre zusammen, lasse das Gebäckstück fallen. Sofort bückt es sich danach. Die grotesk langen Krallen sind ihm dabei sichtlich im Weg, aber irgendwie gelingt es ihm, den halben Keks zwischen seinen beiden Handflächen einzuklemmen.
Wieder trete ich einen Schritt zurück, beobachte dabei fasziniert, wie die Kreatur die Hände über den Kopf hebt, die Handflächen zusammenpresst und sich seine Mahlzeit Krümel um Krümel in den Schlund rieseln lässt. Seinem Schmatzen nach zu urteilen fand mein Geschenk seine Zustimmung.
„Möchtest du noch einen Keks?“
Sofort genieße ich wieder seine volle Aufmerksamkeit. Es geht halb in die Hocke, springt dabei von einem Bein aufs andere. „Einenkekseinenkeks. Einenkeks. Nocheineneinenkeks.“
Es dauert nicht lange, bis alle Kekse verschlungen sind. Anschließend stehen wir wieder reglos da und starren uns an. „Keine Kekse mehr?“, krächzt es.
Ich schüttel den Kopf. „Du sprichst meine Sprache.“ Mehr Feststellung als Frage.
Das Wesen grinst. „Jede Sprache.“
„Aber, ähm, nicht besonders gut, wie mir scheint…“
Es hebt die Schultern. „Viel Einsam. Nicht viel Sprache.“

Ich wage einen schnellen Blick über die trostlose Landschaft. Ein schwarz-grüner Moosteppich bedeckt den unebenen Boden. Die Stämme der Bäume sind schmutzig grau und voller Furchen und… Nagespuren? Jenseits meines Lichtkegels erkenne ich nur schemenhaft weitere Baumstämme.
„Lebst du hier?“, frage ich.
Es nickt eifrig, legt die Stirn in Falten. „Hier, dort, überall. Aber hier nicht gut. Kein Fleisch keine Kekse mehr.“
„Kennst du den Weg hinaus?“
Wieder nickt es. „Alle Wege.“
„Würdest du mch führen?“
Wortlos schlurft es ein paar Schritte zur Seite, sieht mich auffordernd an.
Ein wenig mulmig ist mir schon, aber hier möchte ich eigentlich auch nicht verweilen. Kurz denke ich darüber nach, es zumindest nach unserem Ziel zu fragen. Aber welchen konkreten Nutzen hätte eine Antwort für mich? Das Wesen schlurft weiter. Ich beeile mich, ihm zu folgen.
„Hast du eigentlich einen Namen?“
Es wirft mir einen langen Blick über die Schulter zu.
„Seeeele“, krächzt es, und beschleunigt seine Schritte.

[Teil 2]